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08/2000:Tippeltappel hinterm Zaun
Für Pferde und Reiter hat Olympia 2000 schon angefangen.

Mit den strengsten Quarantänevorschriften der Welt piesacken die australischen Behörden die Mannschaften. Die Sportler scheuen keine Mühen, um die Hygienekontrolleure gnädig zu stimmen. Im Wald bei Warendorf können Jogger derzeit schon mal die Orientierung verlieren. Ein endlos scheinender Gitterzaun versperrt die Trampelpfade, zieht sich durchs Unterholz und verschwindet mitten in einem wogenden Maisfeld. Der Warendorfer Zaun ist Teil einer gigantischen logistischen Operation. Ihr Ziel: rund 260 Pferde aus aller Welt zu den Olympischen Spielen nach Sydney zu bringen - ein unvorstellbar kompliziertes Unterfangen. Denn die Australier, die stets befürchten, einreisende Tiere könnten aus anderen Erdteilen fremde Mikroorganismen oder Krankheitserreger einschleppen, haben über ihren Kontinent die strengsten Quarantänevorschriften der Welt verhängt. "Wir sind ja Kummer gewohnt", seufzt Herbert Meyer, 61, Bundestrainer der deutschen Springreiter. Seoul, Atlanta, ohne Quarantäne war auch das nicht zu machen. "Aber das hier ist Wahnsinn." 100 000 Quadratmeter misst allein das streng abgeriegelte Quarantäneareal in Warendorf. Freiwillige Helfer des Technischen Hilfswerks rammten in tagelanger Arbeit kilometerweise Stahlgitter in den münsterländischen Sand. Dahinter bereiten sich nun acht deutsche Springpferde auf das Sportereignis vor, ein Flugticket bekommen indes nur fünf. Zwei Wochen lang hält der Zaun gewöhnliche Artgenossen auf Distanz zu den Medaillen-Anwärtern. Ein falscher Schnupperkontakt - und Olympia wäre für die ganze Equipe beendet. "Da sind die australischen Kontrolleure beinhart", sagt Meyer. Nach den 14 Tagen Gruppenhaft in Warendorf müssen die vierbeinigen Spitzensportler nach den Bedingungen des Australian Quarantine and Inspection Service AQIS im Horsley-Park von Sydney nochmals für zwei Wochen hinter Gitter. Mitte September starten dort die ersten Wettkämpfe. Auf der gesamten Transportkette darf die Quarantäne niemals unterbrochen werden. Am Tag des Quarantänebeginns, am 8. August, läuft ein unerbittlicher Countdown: Alles, was bis Mitternacht nicht innerhalb des Zauns ist, darf später nicht mehr hinein und schon gar nicht nach Sydney fliegen - vom Hufnagel bis zum ganzen Pferd. Im hessischen Kronberg, wo die Dressurpferde in Quarantäne gehen, im bayrischen Kreuth, wo die Vielseitigkeitspferde eingesperrt werden, und in Warendorf schleppen Helfer in Alukisten und Säcken 350 Kilogramm Reisegepäck pro Pferd in die desinfizierten Ställe: Satteldecken, Zaumzeug, Putzkisten. Weil die Einfuhr von Holz auf den fünften Kontinent streng verboten ist, darf nicht mal ein hölzerner Striegel mit an Bord. Selbst das Innenleben sämtlicher Sättel wurde penibel auf eventuelle Holzaufbauten überprüft. "Ich hatte Glück", sagt Ludger Beerbaum, dreimaliger Olympiasieger, "in meinem ist nur Plastik." Ausnahmesituation auch bei der Ernährungslage: "Kein einziges Futterstückchen dürfen wir mitnehmen", klagt Mannschaftsarzt Björn Nolting. Auf jedem Halm könnte sich ein unerwünschtes Krabbeltier, auf einem Haferkorn ein ganzes Bakterienvölkchen nach Australien durchmogeln. Normalerweise ist jedes Turnierpferd im Wert eines hübschen Eigenheims auch auf Reisen präzise auf ein persönliches Körnermenü eingestellt. Deshalb hat Nolting, intimer Kenner des pferdlichen Verdauungsapparats, schon vor Wochen säckeweise australisches "Vitality Horse Meal", das öligere Raufutter für die dortigen Spitzenkräfte, nach Deutschland importiert. Nach Nährstoffanalysen errechnete er für jeden seiner Stars die passende Futtermenge. Damit den verwöhnten Tieren das Getreide von der anderen Seite des Erdballs nicht auf den sensiblen Magen schlägt, beginnt die Futterumstellung schon jetzt. Ludger Beerbaums kastanienfarbener Hengst Goldfever, mit neun Jahren ein weit gereister Profi, malmt in der eben bezogenen Box sein erstes Olympiamüsli. Beerbaum ist optimistisch: "Ich ess ja in Australien auch nicht dieselbe Hausmannskost wie in Riesenbeck." Goldfevers Boxennachbar For Pleasure, 14, schaut zu, wie Reiter Marcus Ehning für ihn ein paar Kisten Brottrunk herbeikarrt. Cento, 11, der Große-Preis-Träger von Aachen, äppelt in die Ecke. Gemächlich klappern die übrigen Pferde-Promis herein. Nolting überprüft ein letztes Mal die Reiseapotheke. "Wir sind gute acht Wochen unterwegs", sagt der stämmige Pferdedoktor im Karohemd. "Da muss man sich für alle Eventualitäten rüsten": 200 Kilogramm Vitamine und Aufbaupräparate, ein OP-Besteck, Augenspiegel, Fieberthermometer, eine Schlundsonde mit Trichter, ein transportables Röntgengerät, Mittel für den Kreislauf, Infusionen, Tranquilizer gegen Panik im Flieger. Eine Horrorvision wäre es, wenn ein Pferd die Quarantänestation verlassen müsste - etwa wegen einer lebensgefährlichen Kolik. "Dann dürfte es nie wieder hinein", barmt der Arzt. So erging es einem US-Pferd, das sich in der Quarantäne verletzte. Unter strengsten Hygienebedingungen wurde es in einem desinfizierten, verplombten Lkw in den hermetisch abgeschirmten Bereich einer Pferdeklinik gefahren. Doch den australischen Veterinären war das nicht genug. Nolting: "Jetzt kann sich das Pferd Olympia im Fernsehen anschauen." Um 15.30 Uhr nimmt der Amtsarzt den Olympioniken im Auftrag der Australier ein Röhrchen voll Blut ab und tastet nach Zecken, sogar am Gemächte, und schaut den Medaillenhoffnungen unter den Schweif. Dann wird der Zaun feierlich für zwei Wochen dichtgemacht. So dicht es eben geht. Ein Keimträger in Gestalt einer Schwalbe schwingt sich durch den Stall. Alles blickt nach oben. Tja. Der Bundestrainer erleidet einen Anfall von Sarkasmus: "Hier kommt doch jedes Karnickel durch", ruft Meyer armeschwenkend. "Bei dem Zirkus können wir die Pferde ja gleich unter eine Käseglocke stellen, ha." Dann reißt er sich abrupt zusammen. In seiner letzten Trainersaison schweigt er mit verschränkten Armen auf den Zehen wippend und mit gerunzelter Stirn in die Runde. Widerstand ist zwecklos, die Australier sollen ihren Willen haben, und über Karnickel steht nichts in den Bestimmungen. "Da hilft nur Humor", grinst Olympionike Beerbaum. "Wir machen doch hier die totale Muppet-Show." Alle spielen mit, denn jeden Moment könnte ein australischer Kontrolleur auftauchen. Beerbaum verschwindet mit einem Köfferchen in der eigens eingerichteten Hygieneschleuse, um seinen Quarantänespind einzuräumen. Ein Rentner wacht darüber, dass niemand außer Pflegern, Reitern, Trainer und Arzt noch Zutritt zu den Pferden hat. Wer hineinwill, muss in der Schleuse die Alltagskleidung gegen die mitgebrachte Quarantänereitmontur tauschen und sich die Hände waschen, als plane er einen chirurgischen Eingriff am Pferd. "Wir haben\''s ja noch gut", findet Teamkollege Marcus Ehning. Die niederländischen Reiter, die nach Beginn ihrer Quarantäne im holländischen Valkenswaard noch ein Turnier bestritten, mussten, unter den Argusaugen einer australischen Veterinärin, in blütenweißen Schutzanzügen den Parcours abschreiten. Ehning, in der Szene als "kleiner Feuermelder aus Borken" bekannt, amüsiert sich: "Die liefen rum wie die Astronauten." Damit der Bewegungstrieb der hoch trainierten Tiere keinen Schaden nimmt, befindet sich im weiträumigen Quarantäneareal ein eigens angelegter Springplatz; für schlechtes Wetter ist eine riesige Reithalle reserviert. Gegen Lagerkoller stehen Spaziergänge mit den Pflegerinnen auf dem Programm. Im Stall schwebt eine Höhensonne für Pferde unter der Decke. "Die sind hier luxusmäßig untergebracht", sagt Tiermediziner Nolting. "Leiden tun eher die Menschen." Es sei "schon extrem", was die Australier verlangen, aber auch verständlich: "Die haben dort keine Lust auf unsere Pferdekrankheiten." Wenn der australische Amtsschimmel mal wieder besonders kräftig wiehert, ist Martin Atock, 37, Geschäftsführer der Spedition Peden Bloodstock mit Sitz im niederrheinischen Niederkrüchten, meist einer der Hauptleidtragenden. Unter den strengen Blicken von Dr. Narelle Clegg von der australischen Quarantänebehörde AQIS organisiert der workaholisch veranlagte Ire Quarantäne und Transport sämtlicher Olympiapferde aus 23 Nationen. "Die Pferde machen die geringsten Probleme", sagt Atock, "das sind ja routinierte Vielflieger." Die aberwitzig anmutenden Hygiene-Spielregeln, die AQIS auf neun eng beschriebenen Seiten aufgestellt hat, stürzen ihn jedoch täglich in Verzweiflung. Jedes Pferd braucht für die Einreise einen dreisprachigen Pferdepass. Weiter fordert AQIS den Nachweis, das sich das Tier innerhalb der letzten Monate nicht in einer Region aufgehalten hat, in der bestimmte Pferdekrankeiten vorgekommen sind. Selbst bei gewöhnlichen Krankheiten wie Rotz oder Pferdegrippe muss jedes Ansteckungsrisiko ausgeschlossen sein. Besonders gefürchtet ist das Borna-Virus, das seinen Namen nach seinem ersten Auftauchen in einer sächsischen Kleinstadt trägt. Kranke Tiere verfallen in Stumpfsinn, fangen an zu sabbern und zu zucken und gehen schließlich ein. Ein Pferd, das nach Sydney will, darf innerhalb der letzten zwei Jahre nicht einmal durch eine Gegend gefahren sein, in der Borna jemals vorgekommen ist. Nächtelang zeichnete Atock auf einer eigens recherchierten Borna-Karte die Transportwege sämtlicher Spitzenpferde ein, die möglicherweise nach Olympia reisen könnten. Das waren weltweit etwa 800. Die Pferde aus nicht europäischen Ländern mussten zuvor noch eine 30-tägige Isolationszeit in ihrer Heimat hinter sich bringen. "Die Mitarbeiterin, die die entsprechenden Dokumente getippt hat", witzelt der Mann mit dem akkurat gescheitelten Haar, "hat jetzt keine Finger mehr." Immerhin: Sämtliche Pferde, die den bürokratischen Hindernisparcours ohne Fehler geschafft haben, stehen jetzt in einer der Quarantänestationen in den USA, Großbritannien oder Deutschland hinter einem Zaun vom Typ Warendorf. Allein in Aachen warten schweifwedelnde Champions aus 17 Nationen, darunter Argentinien, Ägypten und Japan, auf den Abflug. "Einige Länder hatten zwar gute Equipen", sagt Atock, "sind aber an den exzessiven Hygienevorschriften gescheitert." Pech hatten die Vielseitigkeitsreiter aus Uruguay: Als sie erfuhren, dass sie für ein anderes Team nachrücken konnten, fehlten ihnen vier Tage Quarantänefrist. "AQIS blieb hart", erzählt der Spediteur, "es tat mir so Leid für die Jungs." Die 15 deutschen Olympiapferde werden jedoch, wenn alles gut geht, am Mittwoch dieser Woche in verplombten Transportern zum Flughafen nach Frankfurt reisen und dort in einer eigens eingerichteten Transit-Quarantänehalle nächtigen. Donnerstag besteigen sie unter Aufsicht von Dr. Clegg die 32 000 Mark teuren, alufarbenen Langstrecken-Pferdecontainer und nehmen den letzten der vier Olympia-Pferdejumbos. Dann steigt die umgebaute Boeing 747, in der 66 Pferde und 30 menschliche Flugbegleiter Platz finden, in einem speziellen Flachwinkel von rund 18 Grad in Richtung Sydney auf. Ein irrwitziger Aufwand, wenn man bedenkt, dass für die meisten Pferde Olympia 2000 nach einem Zehn-Minuten-Auftritt zu Ende ist. Die Deutschen zahlen angesichts berechtigter Medaillenhoffnungen für Flugticket und Gepäck pro Pferd 76 000 Mark, der gesamte Reiterausflug nach Olympia kostet zwei Millionen. Von dem organisatorischen Kraftakt, den ihr Luxustrip zum Sportfest der Völker erfordert, ahnen die Olympioniken in Warendorf nichts. Noch fühlen sich die Hochleistungssportler wie im Ferienlager. Im Stall singt Eros Ramazotti aus dem Kassettenrecorder. Cento dreht ein paar Runden im Pferdekarussell. Goldfever und For Pleasure schauen sich mit Beerbaum und Ehning den nagelneuen Springplatz an. Mehr als ein bisschen Tippeltappel hinterm Zaun ist in den ersten Tagen sowieso nicht drin. Auch der Bundestrainer wirkt entspannt und radelt auf einem knallroten Mountainbike durch das weitläufige Areal. "Na, mal ehrlich, die Australier sind ja heutzutage richtig locker", juxt Meyer. 1956 fanden nämlich schon einmal Olympische Spiele in Australien statt. Damals mussten die Pferde wegen noch strengerer Quarantänevorschriften ziemlich weit entfernt vom olympischen Dorf nahe Melbourne antreten - in Stockholm.

(Quelle: Spiegel-Online Aug. 2000)

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